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Fahrschule
Erheiternde Gedanken eines Fahrschülers über seinen Fahrlehrer
Es gibt vier wesentliche Momente im Leben eines Heranwachsenden: Die erste
Rasur, der Abschlussball des Tanzkurses, die erste Freundin und die
bestandene Fahrprüfung. Die Reihenfolge kann leicht variieren, die
Rangfolge ist unveränderbar. Die erste Rasur bedingt das erste Aftershave
und macht dich öffentlich riechbar. Der Tanzkurs macht dich gesellschafts-
fähig, die erste Freundin hebt dich von den großmäuligen Theoretikern ab,
die sich nicht trauen den “Playboy” zu kaufen, weil die Kassiererin im
Supermarkt die eigene Mutter kennt. Der Führerschein ist mehr. Der
Führerschein macht dich frei. Aber der Weg in die Freiheit ist weit.
Ziemlich weit…
… ziemlich weit. “Du bist da eben ziemlich weit nach rechts geraten.”
Der Besserwisser neben mir schlägt wieder seinen ernsten Ton an. “So wird
das nichts. Konzentriere dich.” Ich hasse diesen Mann. Ich hasse dieses
Auto, diese Kupplung und diesen dritten Gang. Ich hase dieses große
FAHRSCHULE-Schild auf der Autotüre, das mich für den Rest der Welt als
Verlierer outet.Ebensogut könnte da “Volltrottel” oder “Achtung Idiot”
draufstehen. Ich hasse die Omi vor mir, die ihren absolut hassenswerten
grünen VW-Derby völlig problemlos anfahren lässt, während mein Golf (meine
A-Klasse) meinen verhassten Fahrlehrer und mich durchschüttelt. Ich hasse
dieses Leben und will jetzt bitte sofort sterben.
“Wenn du nicht aufpasst, bringst du uns beide um.” Mein Fahrlehrer weiß
nicht, was er da tut. Er hat ein Pulverfass neben sich am Steuer sitzen
und zündelt grinsend an einer sehr kurzen Lunte. Das heißt, ich glaube,
dass er grinst. Ich habe nicht die Zeit, ihn anzusehen. Ich bin damit
beschäftigt, gerade den Bremsweg bis zur Ampel vor mir auszurechnen, und
die Chancen, vor Gericht mit Notwehr durchzukommen, wenn ich meinen
Lehrmeister erwürge.
Führerschein ist wichtiger als die erste Freundin. Rein emotional gesehen
kann man natürlich darüber streiten, ob das erste Mal sauber rückwärts
Einparken ein bedeutenderes Ereignis als der erste Zungenkuss ist,
pragmatisch gesehen ist die Situation ganz klar. Ohne Führerschein sind ab
einem bestimmten Alter die Chancen auf eine feste Beziehung so groß wie
auf einen Stammplatz im Formel-1-Team von Ferrari. Und diese kleine
Plastikkarte ist die Eintrittskarte ind die Welt außerhalb des
öffentlichen Nahverkehrs. Wer will schon immer öffentlich sein. Oder nur
in der Nähe verkehren. Diese Karte ändert alles. Sie führt dich in das
Leben nach dem letzten Bus.
Das darf dann auch mal 3000 Mark und Millionen Nervenstränge kosten. Und
zwischen dreißig und vierzig Stunden absoluter Abhängigkeit. Als
Fahrschüler bist du ein Sklave, der tun muss, was sein Meister sagt - auch
wenn dein Meister im Sommer immer Sandalen trägt und pausenlos Bananen in
sich reinstopft und dich beschimpft, weil du den Schulterblick vergessen
hast. Wehrst du dich, machst du alles noch schlimmer. Denn du weißt, dass
er es besser kann als du. Also halt den Mund und schau im richtigen Moment
in den Rückspiegel.
Ständig von der eigenen Unfähigkeit überzeugt werden, ist eine harte
Schule für einen Jungen kurz vor seinem 18. Geburtstag, der sich - wie
jeder normale 18jährige - eigentlich für den Nabel der Welt hält. Und zu
allem Unglück folgt der Folter auf dem Fahrersitz auch noch die
allabendliche Diskussion mit den Eltern: “Aber ihr braucht das Auto doch
abends gar nicht…” - “Darum geht es nicht. Du kannst doch auch mit dem
Rad hinfahren. Aber jetzt bestehe erst einmal die Prüfung.” - Genau da ist
der knifflige Punkt.
Dann ist Prüfungstag. Mein Fahrlehrer will sein Geld in bar haben. Als
befürchte er, dass ich es ihm nach der Prüfung nicht mehr geben könnte.
Neben mir stehen zwei arme Gestalten, die vergangene Nacht wahrscheinlich
genauso wenig geschlafen haben wie ich. Wir losen die Reihenfolge aus. Ich
verliere. Ich muss anfangen. Mir ist heiß.
Bis zur Fahrprüfung hat ein normaler Jugendlicher noch keine schwierige
Situation erlebt, in der er sich nicht irgendwie durchwurschteln konnte.
Keine Prüfung, bei der nicht im Notfall betrogen werden, kein Ärger, dem
nicht aus dem Weg gegangen werden konnte. Und plötzlich hilft niemand. Das
nennt man wahrscheinlich erwachsen werden.
Es dauert ungefähr 15 Sekunden, bis ich den Wagen zum ersten Mal abwürge.
Der Prüfer ist nur eine Stimme, die sich vernehmlich räuspert. Wo war doch
gleich der erste Gang? Ich schwitze. Die Folgen sind abzusehen: Ich falle
durch, meine Familie wird mich verstoßen, meine Freunde werden nicht mehr
mit mir reden. Ich werde Dauerpatient beim Psychiater, mein
Selbstbewusstsein wird so groß sein wie das eines Cheeseburgers, statt
Abitur gibt’s Sozialhilfe. Von Frauen reden wir gar nicht. Die Vision muss
mich angespornt haben. Irgendwie springt der Wagen wieder an. Ich fahre…
Erwachsenwerden dauert ungefähr eine halbe Stunde. “Hier bitte rechts”,
“einparken bitte”, “links”, “anhalten und wieder weiterfahren.” Dann:
“Wieder zurück zum Parkplatz.” Der Prüfer legt eine letzte Fußangel aus:
“Steigen Sie bitte aus und kommen Sie zu mir nach hinten.” Ich denke nur:
“So kriegst du mich nicht, du Saukerl,” und werfe einen famosen Blick über
die Schulter, ehe ich die Fahrertür öffne.
Dann hab’ ich ihn. Meinen ersten Zungenkuss hab’ ich vergessen. Meine
Abschlussball-Tanzpartnerin hieß, glaube ich, Alexandra - ich weiß es
nicht mehr genau. Es ist mir auch egal, ich bin jetzt erwachsen und frei.
Ich bin der König der Welt. Jetzt brauch’ ich nur noch ein eigenes Auto.